Rotschöpfchen und der blöde Wolf

Für Heike

Schatz, dieses Jahr schenken wir uns nichts …

Heiligabend, zwanzig nach sechs. Für mich ist es eher 5 vor 12 – ich habe kein Geschenk für Heike! Man hatte sich darauf geeinigt, sich nichts zu schenken, das Jahr war teuer genug. Und nun mehren sich die Anzeichen, dass die anderen doch etwas vorbereitet haben. Hm, und ich? Okay, ich habe mich geduscht. Aber ihr das als Geschenk zu verkaufen? Kaum mehr als eine lahme Eröffnungspointe. Und mein geräumiges Lieblings-T-Shirt, das ich gerade trage? Als Geschenkpapier auch nicht mehr geeignet – wenn es das jemals war.

Letztmögliche Chance: eine 5-Minuten-Story, nicht von Maggi, aber mit Magie, aus flinker Feder und pointiert gewürzt! Aber worüber? Was immer ankommt, sind Lovestorys. Ha – die, wie wir uns kennengelernt haben! Mal überlegen, wie war das nochmal … und wann? Wegen der Daten sollte ich sicherheitshalber bei Heike nachfragen – Mist, geht ja nicht, jedenfalls nicht jetzt, sonst werden wir zum Paradebeispiel dieser typischen familiären Eskalationen am heiligen Abend mit Polizeieinsatz und Eierpunsch in der Notaufnahme. Nein, danke!

Unten laufen die letzten Vorbereitungen: Kerzen am Baum anzünden und so. Sie suchen gerade das Gasfeuerzeug. Ich hab’s sicherheitshalber versteckt, wir haben LED-Kerzen. Sage ich ihnen aber erst, wenn ich fertig bin. Komme mir gerade vor wie zu Zeiten der Deutschaufsätze: alle anderen schreiben ganze Diplomarbeiten, Gottaut hat noch nicht mal ein Konzept und unser guter alter Herzel mahnt: »In fünf Minuten abgeben!« – Fünf Minuten, fünf Minuten, fünf Minuten … Herr im Himmel, hilf mir!

Es war an einem Freitag im Oktober 1993. Jetzt erinnere ich mich: es war der neunundzwanzigste. Morgens hatte ich noch Termine in Regensburg, nachmittags musste zu einer Tagung nach Neu-Ulm, Römervilla. Natürlich hatte ich mich verspätet, die Besprechung hatte bereits begonnen. Aber wer Spannung erzeugen will, muss das Publikum warten lassen. Auftritt! Alle starren dich an, aber du siehst nur diese eine Frau. Es ist nicht die, der du gleich die gelbe Rose überreichen wirst, die du zufällig zur Hand hast. Die bekommt die Seminar-Leiterin. Heute morgen hatte man sie dir selbst als Geschenk überreicht, jetzt ist sie die perfekte Ablenkung von deiner späten Störung. Mit schnellem Blick schaust du rüber zu diesem frechen Rotschopf, der dich seit deinem Eintritt fixiert. Er dreht sich schnell weg, aber der kurze Kontakt hat bereits genügt.

Während der nächsten Stunde ertappt ihr euch immer wieder beim schnellen Weggucken. Alle anderen wollen abends miteinander fort, nur deine Auserwählte hat etwas anderes vor: sie trifft sich mit einer Freundin. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich Ihnen heute Abend anschließen würde?« Ich bin selbst verwundert über meine Dreistigkeit, mich einfach in einen Frauenabend zu drängen. Aber was tut man nicht alles angesichts der Aussicht, den Feierabend mit einer Truppe selbstdarstellender Nadelstreifen verbringen zu müssen! Die Antwort kommt prompt und überrascht: »Ja, gerne!« Ha, ich mag zwar etwas aus der Übung sein, aber seine Jagdinstinkte verliert ein Wolf eben nicht. Selbst wenn er lange Zeit vom Markt war und ohne Rudel ist.

Am nächsten Tag ergibt es sich wie von selbst, dass der Wolf sich ständig in der Nähe von Rotschöpfchen herumdrückt. Unbewusst und unmerklich zieht er seine Kreise enger und enger. Am Abend sitzt seine Auserwählte ihm gegenüber und man hat nur Augen füreinander. Zudringliche Jung- und Altrüden werden mit kurzem Knurren einmalig vorgewarnt, dann mit mordlüsternen Blicken weggebissen. Nach dem Aufbruch separiert man sich schnell und geschickt von den anderen. »Wir treffen uns dann noch alle bei …« Ja ja, trefft ihr euch ruhig mal alle bei wo-auch-immer! – – –

Bei einem improvisierten Tankstopp (»Zigaretten sind alle!«) verliert man geschickt die Fährte der anderen. »Wohin jetzt?« fragt Rotschöpfchen mit unschuldigem Augenaufschlag. – »Keine Ahnung.« – »Ich habe hier eine Tante …« – »Von mir aus.«  Dass es zwanzig Minuten nach Mitternacht ist und man um diese Uhrzeit selbst in engen Familienkreisen keine Besuche mehr macht, fällt mir dabei gar nicht auf. Zehn Minuten später finde ich mich auf dem Parkplatz eines Wohngebiets in Ulm wieder. Was soll ich hier? Was will ich bei Rotkäppchens Großmutter, nein, bei Rotschöpfchens Tante? In Ulm, mitten in der Nacht! Einen Korb mit Wein und Kuchen vorbeibringen? Unsicher sehe ich rüber zu der Frau, die mich hierher entführt hat. Was erwartet sie jetzt von mir? Irgendwann dämmert es dem bösen Wolf, dass sein »Rotkäppchen« nichts mit der unschuldigen Kleinen aus dem Märchen zu tun hat. Die vermeintlich unbedarfte Beute denkt inzwischen bei sich, dass der Jagdinstinkt von Wölfen auch nicht mehr das ist, was er in Märchen einmal war.

»Was machen wir jetzt?«, frage ich mit fast schon peinlicher Naivität. Rotschöpfchen seufzt und denkt, allmählich verzweifelnd: Echt jetzt? Das ist ja wohl der mit Abstand begriffsstutzigste böse Wolf, der je in einer Lovestory vorkam. Was braucht der noch für Signale – eine Einladung per Leuchtschrift über meiner Stirn? Die Situation erfordert umgehend einen entschlossenen Rollentausch. Zielstrebig ergreift Rotschöpfchen die Initiative und verkündet dem Wolf, dass sie ihn jetzt fressen werde! Ihre Stimme klingt entschlossen und lasziv zugleich. »Äh, sollten wir nicht besser … woanders?«, wende ich  atemlos vor Nervosität ein. »Halt‘ den Mund«, höre ich noch und dann werde ich auch schon verspeist – – –

Am nächsten Morgen erwache ich mit einem merkwürdigen Druck auf meinem Bauch. Gütiger Himmel, es werden doch wohl keine Wackersteine sein? Vorsichtig hebe ich den Kopf. Gottseidank, Wackersteine haben keine roten Haare!

Fertig, gerettet! Unten ruft das Christkind nach mir.