Vater einer Tochter

Sonntagmorgen, ich liege im Bett. Eine feuchte Schnauze knabbert mich wach. Ich bekomme die Augen nicht auf, vermute aber, dass es wohl Ella ist. Früher war das mal Töchterchens Part gewesen, davor Frauchens – ist beides aber schon ’ne Weile her. Tempora mutantur … die Zeiten ändern sich und so weiter – seufz. Irgendwann stellt der warme Lappen seine Wiederbelebungsversuche ein und trottet aus dem Zimmer.

Ich taste mich durch Sehschlitze ins Bad. Auf einem Auge weitet sich der Spalt nach mehrmaligem Blinzeln zu einer verwendbaren Einsatzgröße. Erst mal ’n vorsichtiger Blick durch die Milchglasscheibe. Ahhhh, aufhören, zuviel Licht! Draußen verstrahlt die Sonne verschwenderisch Myriaden Megawatt als kenne sie keinerlei Energieprobleme. Reflexartig klappt der Augendeckel wieder runter und schlägt dröhnend aufs untere Lid. Ich kämpfe um mein Gleichgewicht und gewinne allmählich wieder die Kontrolle über die Pupillenabdeckung. Ein Blick in den Spiegel und wieder blenden die Augen auf Null. Der Widerschein ist nix auf nüchternen Magen. Obwohl … nüchtern? War wohl ein Fünfkommanull zuviel, gestern. Egal, is‘ ja nur zweiundfünzigmal Weekend im Jahr!

Heike war bereits mit Ella Gassi und rumort jetzt in der Küche. »Moggäään«, plärre ich durch Tür und Gang. »Kaffee?« Zurück kommt ein fröhliches »Morgen, Schatz!« Unklar bleibt, wie der Zwei-Wort-Satz gemeint war. Ob ich bis morgen auf den Kreislaufbeschleuniger warten solle? Man wird sehen. Ich dusche und kehre allmählich zurück ins Leben. Anschließend schaffe ich es sogar, die Rasur ohne wesentlichem Blutverlust abzuschließen. Nur beim Zähneputzen überkommt mich leichte Übelkeit, als Heike fragt: »Frühstück drinnen oder draußen?« Frühstück? Wäre eventuell gleich wieder draußen. Erstmal nur Kaffee! »Draußen!«, rufe ich zurück.

Frisch poliert und angezogen setze ich mich an den Balkontisch. Heike stellt ein Weizenglas vor mich hin. Schaue sie fragend an.

»Man(n) soll doch bekanntlich mit dem anfangen, mit dem Mann aufgehört hat!« – Aha, denke ich, Schocktherapie!

»Danke«, erwidere ich mit einem angedeuteten Würgereflex, »ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen. Momentan genügen mir Kaffee und Aspirin – in getrennten Gefäßen, verbindlichsten Dank!«

Wenigstens kriege ich jetzt unser obligatorisches Morgenküsschen. Wo eigentlich unsere Tochter sei, frage ich. Die sei wohl noch müde, meint Heike. Jedenfalls kommen noch keine Lebenszeichen aus den unteren Gewölben, welche unser holdes Töchterlein inzwischen bewohnt. Wir hatten unsere fast Ausgewachsene in die Souterrainwohnung verfrachtet, um mehr Ruhe zu haben. Das ewige Kommen und Gehen der Kumpels und Freundinnen wurde irgendwann lästig, vor allem weil ständig wir die Türe öffnen mussten. Irgendwie schaffen es Teenager, Türklingeln permanent auszublenden. Mehr Ruhe, ha, auch so ein Schuss ins Knie! Anstelle von 20 Quadratmetern Mansardenzimmer hat Tochter jetzt eine richtige Wohnung mit separatem Eingang. Was natürlich bedeutet, dass Hinz*in und Kunz*in nach Belieben kommen und gehen. Auch nachts! Zudem durchdringen Bässe Stahlbeton wie nix, 24/7. Außer, wenn Bauwagen ist, dann herrscht kurzzeitig Ruhe – es lebe Peter Lustig! Allerdings ist die Idee der elterlichen Kontrolle, ahem, will sagen ›Fürsorge‹ so oder so nur noch ansatzweise durchsetzbar. Egal, jedenfalls wollte ich endlich wieder zum Kühlschrank gehen können, ohne pickelgesichtigen, die letzte Milchschnitte kauenden Plünderern zu begegnen, die mich mit »Ey Alda, was geht? Übrigens, Nutella is‘ alle!« begrüßen.

Irgendwann während des Frühstücks erscheint Tochter dann doch noch auf der Bildfläche. Wieso hat die einen so verschwommenen Umriss? Durch kurzes Kopschütteln versuche ich, klarer zu sehen. Der Umriss stellt sich als weitere Person heraus, die jetzt hinter ihr hervortritt. Ein Jüngling, männlichen Geschlechts – jetzt sehe ich klar! Woher kommt der Knabe so früh am Morgen? Hat der etwa … !?

»Hi, das ist Lenni (Name geändert). Ich habe ihn gestern mitgenommen. War schon so spät und es ging kein Bus mehr. Ihr hattet ja schon gepennt. Wollte euch nicht wecken.«

Wie beiläufig präsentiert Tochter die Jungfassung eines Adonis. Mitgenommen, ha – die Formulierung wäre mir auch als erstes eingefallen, während ich mir Lennis körperliche Verfassung betrachte. Der würde sich am liebsten unsichtbar machen. Die Saugmale am Hals des jungen Mannes sprechen Bände. Ich stelle mir vor, dass er eine kurze und anspruchsvolle Nacht hinter sich hat. An seinem Blick erkenne ich, dass er weiß, dass ich weiß, dass er weiß … und so weiter. Na, wenigstens keine intellektuelle Lusche, stelle ich erleichtert fest, Geschmack hat unsere Tochter wenigstens. Trotzdem – der jedem Vater einer Tochter innewohnende Sizilianer setzt sich behend auf meine Schulter und flüstert mir ins Ohr: »Eigentlich könntest Du ihn doch ein bisschen quälen, oder?«

Quälen? Und ob, wenn der Knabe schon ohne mich zu fragen von meinem Tisch nascht! Habe ich das eben laut gedacht? Alle Aktivitäten sind zu einem Standbild eingefroren und sämtliche Blicke auf mich gerichtet. Ich überspiele die Situation, indem ich ihm einen Platz anbiete. Direkt dort, wo der Sonnenschirm keinen Schatten mehr spendet und ihm so das Schwitzen erleichtert wird. Egal, wer die Hitze nicht aushält, muss raus der Küche. Sicherheitshalber presse ich bei diesem Gedanken die Lippen fest aufeinander, was meinem Gesicht einen leicht grausamen Zug verleiht.

»Na, … etwas müde, der junge Herr?«, eröffne ich gedehnt das hochnotpeinliche Verhör. Lenni zuckt leicht zusammen. Vor meinem geistigen Auge ensteht das Bild von der Katze und der Maus. Maus angstvoll in der Ecke, Katze lässig vor ihr lauernd. Ja, das Bild passt und es gefällt mir. Nur, dass noch nicht raus ist, ob die Maus hier mit dem Leben davonkommen wird.

Es gehe schon, stottert Lenni zurück.

»Vadda«, warnt mich meine Tochter, »Sei lieb zu ihm! Das ist jetzt meiner, also schrecke ihn nicht gleich ab!«

»So so, Lenni kommt also jetzt öfter – ist das so, Lenni?«, setze ich nach, die Stimme wie Robert de Niro.

»Ja … ich denke … ich weiß jetzt nicht … das … das …« Lenni bricht ab. Was soll er auch schon sagen? Dass er nie mehr wieder kommen wird, wenn er es nur schafft, hier und heute noch einmal mit heiler Haut davon zu kommen! Es war jedenfalls nicht ganz die Antwort, die er hätte geben sollen, aber solche Anfängerfehler macht man in jungen Jahren noch. Die korrekte Antwort, vorzutragen mit ruhiger, fester Stimme, wäre gewesen: »Natürlich! Wenn Flavia will, für den Rest meines Lebens!« Aber so geistesgegenwärtig ist Mann erst nach nach vielen Jahren Training. Das muss sitzen und wie aus der Pistole geschossen kommen. Armer Kerl – fast tut er mir jetzt schon leid. Aber nur fast.

»Wie stellst du dir eure Zukunft vor? Zieht ihr zusammen? Willst du Kinder? Wieviel verdienst du im Monat? Oder deine Eltern? Hast du Geschwister, mit denen du einmal das Erbe teilen musst?«

Heike rollt mit den Augen, als führen sie in einer Miniatur-Achterbahn. »Jetzt ist aber gut!«, bestimmt sie, »Wenn du nicht gut tust, darfst du die nächsten 4 Wochen nicht mehr alleine fort«

»Siehst du, Junge«, wende ich mich mit einem kalten Lächeln wieder Lenni zu, »so ist das in meiner Familie, da bestimmen die Frauen!«

Heike zieht hörbar die Luft ein.

Lenni versucht, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. »Was machen Sie eigentlich beruflich?«

»Hat Flavia dir das nicht gesagt? Richtig, natürlich, ich vergaß – Omerta, du versteht? Schweigen ist Leben! Ihre Mama und ich killen für die Mafia! Ich dürfte dir das eigentlich nicht sagen, aber du gehörst jetzt ja zur Familie … mit ALLEN Konsequenzen!«

Flavia und Heike bekommen große Augen.

»Nein nein, alles ist gut« versichere ich Lenni. »Flavias andere Freunde vor dir leben alle noch!«

» Vadda«, rufen Tocher und Gattin wie aus einem Mund. »Jetzt ist aber gut!«

Ich lache, bis mir der Bauch weh tut und auch Lennis Spannung löst sich schließlich in einem erlösenden, trotzdem irgendwie verkrampft wirkenden Lachen auf. Irgendwann verabschiedet er sich artig und mit Handschlag.

Ich bestelle bei Heike jetzt doch ein Weizen – was für ein schöner Tag!

Diese Geschichte ist vollkommen fiktiv, aber wahr. Jede Ähnlichkeit mit noch lebenden oder toten Personen oder noch zu tö...  wäre zufällig und ist nicht beabsichtigt.